Wann gibt es hier schon einmal Proteste? Ich meine eruptive Proteste, mit brennenden Flaggen, zerstörten Autos, mit Toten und Verletzten? Man kann dankbar sein, dass dem so nicht ist. Proteste sind, wenn überhaupt, eher friedlich. Man wundert sich schon, warum Menschen sich die Zumutungen des Alltags bieten lassen und nicht schäumend vor Wut auf die Straße gehen, Barrikaden aufbauen und sich mit Sicherheitskräften prügeln. Doch die Empörung ist eine des Individuums und richtet sich vor allem gegen den Nachbarn, nicht gegen das System.
Vielleicht liegt es daran, dass hierzulande beinahe alle satt werden und Armut im Vergleich mit anderen Ländern hier eher ein Karrierehemmnis ist als existenziell bedrohlich. Wer arm ist, wohnt in der Regel dennoch und verfügt über ausreichend Lebensmittel. Wer arm ist, lebt qualitativ schlechter, ist aber nicht vom Hunger bedroht. Diesem Zustand ist es wohl zu verdanken, dass Massenproteste in der BRD und anderen, dem "Westen" zugeordnete Länder, kaum vorkommen. Und, so paradox es klingen mag: Auch dass man für (fast) alles demonstrieren oder gegen alles protestieren darf, glättet die Wogen.
Anders in den sogenannten islamischen Staaten, in denen jeglicher Protest im Keim erstickt wird. Hinzu kommt ein eklatanter Mangel an Bildung in weiten Teilen der Bevölkerung. Man mag einwenden, dass Bildung auch im "Westen" Mangelware ist, aber im Vergleich zu vielen Ländern im Nahen Osten und Nordafrika verfügen wir über ein vorzügliches Bildungssystem. Jeder hätte wenigstens die Möglichkeit, sich umfassend zu bilden (wenn auch nicht die Voraussetzungen). Wirkliche "Opfer" haben diese Option nicht. Sie haben kaum Möglichkeiten, ihrem politischen Willen Ausdruck zu verschaffen und sich individuelle Freiheiten zu nehmen. Noch dazu befinden sie sich in existenziellen Abhängigkeiten, denen gegenüber die Sanktionen eines Jobcenters geradezu lächerlich erscheinen.
Wohin also mit der Wut? Dazu braucht es gelenkte staatliche oder islamistische "Massenveranstaltungen", in denen sich der aufgestaute Zorn und die Unzufriedenheit entladen darf. Wenn Staat und Religionsführer nicht für die Armut und die Verzweiflung der Bevölkerung verantwortlich ist, dann muss es doch wenigstens der dekadente Westen sein. Und ist es nicht abscheulich, wenn ein Film den Propheten und damit jeden einzelnen Muslim beleidigt? Dann dieses diffuse Bild des Westens, in dem offenbar alle gleichgeschaltet gegen den Islam arbeiten (auch und obwohl in diesen Ländern ebenfalls nicht wenige Muslime leben).
Aber ist es nicht seltsam, dass der "Westen" einerseits der Individualität der Menschen angeprangert wird (die zu Gottlosigkeit führen muss), jedoch für jede noch so abwegige Handlung weniger Personen in Sippenhaft genommen wird? Man kann von Glück reden, dass die im Internet kursierenden Videos von islamistischen Hasspredigern keine oder nur wenige christliche Mobs dazu verleiten, die Botschaften islamischer Länder oder Moscheen zu attackieren. Man kann von Glück reden, dass der "Westen" durch eine differenzierte, individualisierte und offene Gesellschaft repräsentiert wird und die diagnostizierte Gottlosigkeit sie eher friedfertig erscheinen lässt.
Denn man kann es drehen, wie man es will: Es kann nicht Gottes Wille sein, Hass zu schüren. Weder Gott noch Allah rufen zu derartigem Handeln auf. Es sind lediglich die Religionsführer (oder jene, die sich dafür halten), die noch immer gewusst haben, wie sie Religion für sich selbst nutzen können. Das ist wahrlich gottlos: Gott im Munde führen und persönliche Interessen verfolgen! Dieser pseudoreligiöse Anspruch führt zu Filmen wie "The Innocence of the Muslims" und zu den hasserfüllten Gegenreaktionen, die vergessen machen, dass derartige Propaganda nicht die Meinung von 6 Milliarden Menschen widerspiegelt, aber eben auch nicht zu verhindern ist.
Man kann aber auch dankbar sein, dass längst nicht alle Muslime sich vor den Karren spannen lassen, souverän bleiben und das Handeln einiger tausend Fehlgeleiteter verurteilen. Und die "schweigende Mehrheit", die sich einfach nicht am Irrsinn beteiligt, sondern ihrem Tagewerk frönt. Es verhält sich hier genauso: Die Handlung einiger Weniger darf nicht zu einer Verurteilung der Gesamtheit führen.
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