Dienstag, 12. Juli 2011

Hannelores Nacktheit! Resignation später!

Hannelore wollte sich eben einfach einmal ausziehen und nackig auf dem Rasen sitzen. Offenbar reichte es nur für einen gemeinsamen Ausflug mit Herrn Unwichtig zum Wildenbruchplatz. Vielleicht wäre sie lieber zum Müggelsee gefahren, aber auch Herr Unwichtig macht nicht wirklich den Eindruck, als verfügte er über die Mittel für solch eine Reise. Am Müggelsee jedoch könnte man nicht nur nackt herumliegen, sondern auch ins Wasser springen. Dies ist vielleicht eine schöne Jugenderinnerung von Hannelore.

Nun baut sich Hannelore ihre Realität selbst zusammen. Sie ist alt, ganz offensichtlich alkoholisiert und möglicherweise auch dement. Sie wähnt sich am Nacktstrand und trägt kein Höschen. Herr Unwichtig liegt daneben und scheint zu schlafen, auch er hat gewohnheitsmäßig einen im Tee. Ihn habe ich schon oft derart im Park gesehen, und auch die Bierflaschen neben seinem Handtuch sprechen Bände.

Hübsch anzuschauen ist Hannelore nicht. Sie streckt dem Publikum auf allen Vieren ihren faltigen Hintern, ihre ergraute Scham und baumelnde, schlaffe, graue Brüste entgegen. Ich bin froh, als sie sich setzt. Und ich nicht mehr in eine andere Richtung schauen muss. Hannelores Nacktheit ist schwer zu ertragen. Ich machen mir Gedanken darüber, ob Hannelores Nacktheit zumutbar ist. Oder ob man etwas dagegen tun müsse.

Da wird Herr Unwichtig, plötzlich erwacht, auch schon aktiv. Mensch Hannelore, so kannst Du doch nicht hier herumlaufen. Du bist ja ganz nackt. Zieh Dir was an! Na und? fragt Hannelore. Trotzig wie ein vierjähriges Kind verschränkt sie die Arme vor ihrer Hängebrust. Hannelore wird sich in hundert Jahren kein Höschen anziehen. So! Herr Unwichtig legt ihr die Sachen über die Schultern und vor die Scham. So bleibt sie dann lange sitzen, bis der Schatten weitergewandert ist. Dann krabbelt sie ihm auf allen Vieren nach. Herr Unwichtig hat sich unterdessen wieder hingelegt.

Wir wären ja nicht in Bayern oder Baden-Württemberg, wenn sich nicht mindestens eine etwas, sagen wir einmal, konventionelle, Mutter mit Südstaaten-Mami-Frisur über Hannelores Nacktheit aufregen würde. Ach nein, wir sind ja mitten in Berlin-Neukölln. Die junge Frau weckt Herrn Unwichtig und fordert ihn mit leicht schwäbischen Akzent auf, sich doch darum zu kümmern, dass sich Hannelore wieder was anzieht. Ich verstehe nicht alles. Dazu bin ich zu weit weg. Einzelne Wortfetzen dominieren das Areal, und Herr Unwichtig nickt und versucht Hannelore dazu zu bewegen, sich was anzuziehen. Die junge Frau geht weg.

Mensch Hannelore, mach doch nicht so einen Ärger und zieh Dir endlich was an. Du, die rufen sonst den Krankenwagen. Los, mach schon! Nein, ich will nicht, die knappe Antwort. Jetzt mach es doch nicht noch schlimmer als es schon ist. Die rufen den Krankenwagen. Na und? Hannelores Antwort. Hast Du wieder heimlich Schnaps gesoffen? Hannelore? Doch sie sitzt trotzig schweigend auf dem Rasen, mitten in der prallen Sonne. Ich beginne allmählich große Sympathie für Hannelore zu entwickeln. Warum soll sie nicht nackt herumkriechen dürfen? Das durch die spießige Südstaatenmutti entstandene Bohei stört so viel mehr als eine nackte alte Frau. Nur das mit der Sonne finde ich gefährlich.

Wer weiß schon etwas über Hannelores Leben, die Entbehrungen, die sie hinter sich hat. Vielleicht ist es ein Leben voller Arbeit und verschütt gegangener Hoffnungen und Träume. Resignation später und die Flucht in den Alkohol, in das Vergessen hinein, in die Demenz. Das Heraufbeschwören schönerer Zeiten, als Herr Unwichtig noch nicht in ihr Leben getreten war und sie noch Glück empfinden konnte. Denn allmählich wird klar, wie sehr Hannelore von ihm bevormundet wird. Er beschimpft sie. Das käme nur vom vielen Saufen. Das sagt der Richtige. Sie wolle nie was außer Schnaps und Bier. Sie wolle sich nicht anziehen, sie wolle nicht in den Schatten. Nie wolle sie etwas!

Doch, Hannelore will nackt sein. Sie hat sich nun einmal dazu entschieden. Und sie will in der Sonne sitzen. Im Gras. Niemand außer ihr möchte, dass sie das tut. Deshalb kommt die junge Mutter wieder, dieses Mal mit dem Handy in der Hand. Herr Unwichtig versucht weiterhin, Hannelore zur Ankleide zu überzeugen. Er ist zum Scheitern verurteilt. Die junge Mutter ruft irgendwo an. Ich hasse sie dafür, weil sie den Wunsch der um Einiges älteren, vielleicht sogar verdienteren, Hannelore nicht respektiert. Warum kommen all diese Leute nach Berlin und importieren ihre Überzeugungen, ihre Prüderie, ihre Kleinbürgerlichkeit? Das ist reinster Kolonialismus.

Badeseen, an denen man vor wenigen Jahren noch ungeniert nackt baden konnte, werden heute von verklemmten Badeanzugträgerinnen und ihren zweijährigen, Bikini tragenden Kindern belagert. Mittlerweile erntet man böse Blicke, wenn man sich einfach nur umzieht, ohne ein Handtuch vorzuhalten. Nacktheit ist nicht immer schön. Aber sie ist natürlich. Vielleicht das Natürlichste auf der Welt verbliebene. Wer sich, andere und vor allem und immer wieder die Kinder vor der Nacktheit anderer bewahren möchte, ist einfach nur unfassbar prüde, vielleicht auch ein bisschen gestört. Alles hat seinen Platz, auch die Nacktheit. Und das sind nun mal Badeseen. Und das Zuhause. Im BibleBelt der Bundesrepublik gilt das nicht.

Das hast Du nun davon, Hannelore. Jetzt kommt der Krankenwagen und holt Dich ab. Weil Du so stur bist. Na und? Ist mir doch egal. Und dann kommt sie tatsächlich, die Polizei, und amüsieren sich halb und ärgern sich halb, dass sie wegen einer nackten, alkoholisierten alten Frau, die niemanden wirklich stört, vorbeischauen müssen. Nach einigem Hin und Her schaffen sie es, Hannelore in den Schatten zu führen und dazu zu bringen, sich etwas anzuziehen. Die PolizistInnen ziehen dann ab. Ein kurzes Gespräch mit ihnen ist möglich.

Und tatsächlich hat die junge Mutter die Polizei angerufen und nicht etwa einen Krankenwagen. Sie fühlte sich gestört durch die bloße Nacktheit. Weil das im Park nun mal verboten sei. Und überhaupt, die Kinder, die müssen sowas auch nicht sehen. Ich sage, nun ja, das Leben, das Erwachsen werden, sei eine einzig lange Ansammlung von Traumata, das schade das Trauma, eine nackte alte Frau gesehen zu haben, gewiss nicht. Die Polizistin grinst. Die anderen beiden zucken mit der Schulter. Und ich habe auf einmal angst davor, alt zu werden. Angst davor, alt zu sein in einer Welt, in der man sich nicht einmal nackt ins Gras setzen darf. Hunde dürfen derweil überall hinscheißen.

Ich gehe zum Café gegenüber und bringe Hannelore einen Becher Leitungswasser. Hannelore sagt danke. Herr Unwichtig fragt mich nach meinem Namen, stellt Hannelore vor und sagt ihr, sie solle sich bei mir bedanken. Hab' ich doch gesagt. Ich hab' danke gesagt! Als er den Becher gebracht hat. Ich bestätige das und frage ihn aus Höflichkeit auch nach seinem Namen, doch er winkt nur ab und sagt: unwichtig.

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